Wahrheit aus dem Blickwinkel der Wirklichkeit: Wenn ein Zitateforscher und ein Informatik-Philosoph auf eine Psychotherapeutin und eine Politikerin treffen, kommt es naturgemäß zu unterschiedlichen Begriffsdefinitionen. In einem war sich die Podiumsrunde zur Vorstellung der Toleranzgespräche 2024 am Donnerstagabend im Club Carinthia der Oberbank Wien aber einig: Die Digitalisierung und damit einhergehende Algorithmisierung aller Prozesse wird zunehmend zum Problem, wenn nicht gar dazu führen, dass wir den Überblick verlieren.
Der Zitateforscher Gerald Krieghofer zeigte anhand von zahlreichen bekannten Zitaten, dass die Zuordnung zu ihrem Urheber sehr oft falsch ist und damit eine Unwahrheit darstellt, die es aufzudecken gilt. Es gäbe wirklich üble Zitate, auch in den großen Medien verbreitet, die nicht nur falsch zugeschrieben oder unterschoben seien, sondern gerade deshalb feindselig, rassistisch oder antisemitisch sind. Das angebliche Anselm-Rothschild-Zitat: "Man lasse mich die Währung kontrollieren, dann ist mir egal, wer die Gesetze macht" etwa sei definitiv erfunden.
Der Informatiker und Philosoph Peter Reichl, Autor des neuen Bestsellers "Homo Cyber", warnte davor, ChatGPT oder ähnliche Digitalisierungsmaschinen beim Wort zu nehmen. Diese Wissensmaschinen seien keine neuen Autoritäten und lieferten auch keine Wahrheit(en), sondern würfelten einfach Worte und Sätze zusammen, mit denen sie zuvor gefüttert wurden. Allerdings sehe er als Informatiker, dass unsere komplexer werdenden IT-Systeme zunehmend unbeherrschbar würden und damit eine Gefahr für die ganze Menschheit darstellen.
Wahrheit bleibt auf der Strecke
NEOS-Abgeordnete Stephanie Krisper beklagte für die Politik den schlampigen Umgang mit Statistiken, Daten und Fakten, verwies aber gleichzeitig darauf, dass es auf nationaler wie europäischer Ebene Bemühungen gäbe, den Missbrauch von Algorithmen, digitalen Systemen und sozialen Medien durch extreme, radikale und demokratiefeindliche Kräfte zu unterbinden. In der sozialen Öffentlichkeit entsteht allerdings Verwirrung und Angst, da Emotionen und Bedürfnisse im Diskurs eben mehr Gewicht haben als rationales Wissen.
Dass die Wahrheit oft Wunschdenken ist und bleibt, betonte Toleranzgespräche-Kuratoriumspräsident Hannes Swoboda, der viele Jahre als Listenführer der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament saß. Die Menschen draußen wählen nicht aufgrund von rationalen Argumenten und tatsächlichen Leistungen und Ergebnissen, sondern jene Parteien und Politiker, die ihr persönliches Umfeld, ihre aktuellen Befindlichkeiten, Bedürfnisse und Stimmungslage am besten adressieren und emotional ansprechen.
Wähler möchten wahrgenommen werden
Das bestätigte auch die Psychotherapeutin und Psychologin Margarethe Prinz-Büchl. Sie gab zu bedenken, dass Wahrheit immer mit Wahrnehmung verknüpft ist, die aus einem ganz persönlichen Bedürfnis heraus kommt. Je besser Politiker die persönlichen Bedürfnisse einzelner Menschen begreifen und ihnen vermitteln können, dass sie diese auch sehen und verstehen, desto eher werden sie gewählt. Die Frage also, welchen Gewinn Wähler haben, wenn sie extremen Parteien ihre Stimme geben, kann leicht beantwortet werden: Sie werden wahrgenommen.
(Text: Wilfried Seywald)