Kärntner Spitzendiplomat und slowenischer Ex-Verfassungsrichter über die teuren Lehren aus der Kärntner Volksabstimmung, die sie zu Grenzbewohnern machte
Wien/Ljubljana (APA)
Bei einem anderen Ausgang der Kärntner Volksabstimmung wären Wolfgang Petritsch (73) und Ernest Petrič (83) heute Landsleute. Doch das Votum im Jahr 1920 ließ sie an einer harten Grenze zwischen Kärnten und Slowenien aufwachsen. Im Doppelinterview mit der APA und der slowenischen Nachrichtenagentur STA erzählen die Spitzendiplomaten davon. Eindringlich warnen sie vor einem Comeback der Grenzen.
Die Geburtsorte der beiden liegen nur wenige Kilometer Luftlinie entfernt am Fuße des Loiblpasses. Petritsch wuchs in Glainach bei Ferlach auf, Petrič auf der anderen Seite der Karawanken in Tržič. Aus der Enge des Grenzlandes zog es sie in die Politik und in die Welt. Petritsch wurde vom Kanzlersekretär zum internationalen Spitzendiplomaten, sein slowenischer Namensvetter war Minister, Botschafter und Präsident des Verfassungsgerichts.
"Nirgendwo zeigt sich der Irrsinn des Nationalstaates deutlicher als an der Grenze", betonte Petritsch in dem per Video geführten Interview. "Da darf es keinen Rückfall in Nationalismen geben, die wir schon längst überwunden haben", kritisierte er die jüngsten Grenzschließungen in der Coronakrise. Das halte er für "die wichtigste Lehre für uns beide, die wir nur wenige Kilometer voneinander geboren worden und aufgewachsen und trotzdem getrennt gewesen sind".
Auch Petrič sprach sich dafür aus, dass die nach dem EU-Beitritt Sloweniens geöffnete Grenze durchlässig bleibt. "Wir sollten sehr aufpassen, dass wir nicht zu Ansichten verleitet werden, mit Grenzen, Trennungen und Trennlinien Probleme lösen zu wollen. Meistens machen solche Trennlinien die Probleme nur noch komplizierter und belastender", warnte er.
Der im kommunistischen Jugoslawien aufgewachsene Petrič sagte, dass die Grenze zu Österreich einst "wirklich hart" gewesen sei. "Wer sie illegal überquerte, riskierte sein Leben. An dieser Grenze wurde geschossen." Zugleich berichtete er von den mentalen Vorbehalten. "Als wir beide aufwuchsen, gab es große Unterschiede in den Köpfen, und vielleicht auch in unser beider Köpfe", sagte er in Richtung seines Gesprächspartners.
Nach der Volksabstimmung, der nationalsozialistischen und kommunistischen Zeit sei es sehr schwer gewesen, wieder Vertrauen aufzubauen. "Wir haben teuer für den nationalistischen Totentanz gezahlt, in den ganz Europa rund um den Ersten Weltkrieg, dann im Nationalsozialismus und anderen totalitären Ideologien verwickelt war. Das war eine schreckliche Tragödie, und sie ist in den Köpfen der Menschen geblieben", sagte Petrič. Sein österreichischer Kollege meinte, dass die Nachwirkungen der Nazi-Zeit vielleicht noch stärker seien als jene der Volksabstimmung. "Die wirkliche Tragödie der Kärntner Slowenen hat sich mit der sogenannten Aussiedlung, der Verschleppung, abgespielt, weil damals eigentlich ganz klar signalisiert worden ist, und das mit Unterstützung vieler Kärntner, dass wir die Slowenen in Kärnten nicht haben wollen", sprach Petritsch von einem "Kärntner Kulturbruch".
In Slowenien sei die Kärntner Volksabstimmung "mit einem Gefühl der Traurigkeit" verbunden gewesen, so Petrič. "Wir Slowenen sagen: Kärnten tragen wir im Herzen", sagte er mit Blick auf das frühmittelalterliche Slawenreich Karantanien. Als Mittelschüler sei er im Jahr 1954 mit dem Fahrrad zu einer Reise nach Kärnten aufgebrochen, um die historischen Stätten zu besuchen. "Doch schon am Loiblpass haben unsere eigenen Zöllner uns die Räder weggenommen. Also gingen wir zu Fuß weiter und besuchten das Zollfeld, den Fürstenstein und andere Orte von historischer Bedeutung für Slowenen."
Bei der Rückkehr habe er am Loiblpass auf beide Seiten der Grenze geblickt und gedacht, "wie sehr uns diese Grenze als Slowenen geteilt hat und wie es irgendwie richtig wäre, dass dieses Gebiet wieder verbunden wäre, offen, frei, wie in der Vergangenheit", sagte Petrič. "Als ich aufwuchs, hat man viel über Grenzveränderungen gesprochen. Aber heute haben wir alle verstanden, dass die Veränderung von Grenzen eine unglaublich riskante Angelegenheit ist, die eine Blutspur zieht", mahnte er.
Petritsch trat Anfang der 1970er Jahre den umgekehrten Weg an. Er überquerte den Loiblpass für ein Forschungssemester in Ljubljana. Seine Einstellung zu Kärnten war alles andere als romantisch. In seiner frühen Jugend sei er Kärnten gegenüber "sehr skeptisch" gewesen "aufgrund der Volksgruppensituation", sagte er mit Blick auf die Unterdrückung der Kärntner Slowenen, die diese selbst verinnerlicht hätten. "Meine Großmutter, die kaum Deutsch gesprochen hat, hat einmal gesagt: 'Moja špraha je hrda špraha.' (Meine Sprache ist eine hässliche Sprache)."
Die Volksabstimmung sei in der Folgezeit "absolut fehlinterpretiert" worden, kritisierte Petritsch. "Die nationalistische Brille wurde aufgesetzt und man hat das in einen deutschen Sieg uminterpretiert." Dabei seien es ökonomische und soziale Gründe gewesen, warum slowenischsprachige Kärntner damals für Österreich gestimmt hätten, verwies er auf die Karawanken. "Die wichtigste wirtschaftliche Überlegung war natürlich gerade für meinen Urgroßvater, der Schuster war, wie bringe ich meine Schuhe auf den Markt. Und der Markt war natürlich mit dem Pferdefuhrwerk leichter über die Drau in Klagenfurt erreichbar als über den Loiblpass. Das waren die praktischen Entwicklungen, die nichts mit Ideologie zu tun hatten."
"Mitentscheidend" für das Ergebnis sei auch die Zeit der jugoslawischen Besatzung gewesen, beantwortete Petritsch die Frage, wie denn er im Jahr 1920 abgestimmt hätte. "Ich glaube, damals hätte meine Familie schon deshalb für Österreich gestimmt, weil mein Großvater damals als junger Bursche, der natürlich Slowene war, von einem missliebigen Nachbarn verraten wurde an die jugoslawische SHS-Besatzung und eingesperrt wurde. Und er hat die Haft südlich von Belgrad kaum überlebt", so Petritsch.
Petrič sagte, dass er die hypothetische Frage nach seinem eigenen Stimmverhalten nur schwer beantworten kann, auch aus einem höchst familiären Grund. Sein Großonkel sei nämlich einer der Organisatoren des im Vorfeld der Volksabstimmung blutig niedergeschlagenen Eisenbahnerstreiks in Slowenien gewesen. "Enttäuscht von den damaligen Ereignissen wurde er zum starken Alkoholiker. In unserer Familie hat man viel davon gesprochen." Bei der Volksabstimmung haben damals viele slowenische Arbeiter auch wegen dieser Gewalt der sozialdemokratischen Republik Österreich den Vorzug gegenüber dem "Balkankönigreich" SHS gegeben, berichtete er. Österreich habe den Slowenen damals auch viel versprochen, doch seien diese Versprechen schnell vergessen worden.
Im Gegensatz zur konservativen Monarchie Jugoslawien, in der auf Streikende geschossen worden sei, habe es sich bei Österreich "um eine verheißungsvolle Sozialdemokratie in Mitteleuropa" gehandelt. Schließlich habe sich das slowenische Volk nach dem Ersten Weltkrieg in einem Balkanstaat wiedergefunden, "in den wir eigentlich nicht gehörten". Außerdem habe es durchaus Argumente dafür gegeben, dass der südlich der Drau gelegene Teil Kärntens ohne die großen Städte Klagenfurt und Villach "ein ziemlich abgeschnittener Teil der Welt gewesen wäre".
Petrič betonte, dass jene Kärntner Slowenen, die für Österreich gestimmt hätten, "keine Verräter" gewesen seien. In Jugoslawien und Slowenien habe man sie "nicht verstanden" und habe sie "als Teil unserer Minderheit abgeschrieben", kritisierte er. Genauso seien nach dem Zweiten Weltkrieg nur jene Kärntner Slowenen unterstützt worden, "die bereit waren, mit dem Roten Stern in Kärnten zu demonstrieren".
Positiv bewerteten beide die jetzige Situation im südlichen Bundesland. Kärnten sei ein "schönes Beispiel" für das Zusammenleben zweier Nationen und könnte sogar zum internationalen Vorbild werden, sagte Petrič. "Wir haben 1.000 Jahre zusammengelebt und sollten die kommenden 1.000 Jahre genauso zusammenleben. Die Kärntner Slowenen sind kein Problem für Österreich, und die Reste der deutschsprachigen Minderheit sind kein Problem für Slowenien, das Problem ist die Migration, der Erhalt unserer Identität bei menschenwürdiger Behandlung jener Leute, die zu uns kommen", sagte er.
Die Kärntner Politik habe "eigentlich einen unglaublich weiten Weg zurückgelegt", lobte Petritsch die Berücksichtigung beider Landessprachen im öffentlichen Leben. "Diese Phrase von der Brückenfunktion, die immer wieder verwendet wird und die sehr oft auch nicht stimmt - im Falle Kärntens und Sloweniens stimmt es", sagte er. In diesem Zusammenhang habe die Grenzziehung des Jahres 1920 auch für Slowenien etwas Positives bewirkt. "Indem auf beiden Seiten der Staatsgrenze Slowenen leben, ist die Verbindung dichter und enger als wenn es hier eine klare sprachliche Trennung gegeben hätte", verwies Petritsch auf die Tatsache, "dass Minderheiten immer Verbindungsglieder sind" und auch entscheidend seien für die Zukunft Europas, in dem der Nationalstaat letztlich überwunden werde.
"Es ist ganz wichtig zu erkennen, dass der eigentliche Referenzrahmen für kleinere Völker Europa, die Europäische Union, ist, und dass wir - sei es Slowenien, sei es Österreich - sehr darauf achten müssen, dass es nicht nur für die Marmelade und Kärntner Kasnudeln einen Schutz gibt, sondern auch für die kleineren Sprachen", forderte Petritsch. Er zeigte sich zuversichtlich, dass der jahrzehntelange Trend zur Assimilation der Kärntner Slowenen korrigiert werden kann und verwies auf die steigenden Anmeldungen in slowenischen Bildungseinrichtungen. Auch Petrič sieht eine Zukunft für die Kärntner Slowenen und fordert diesbezüglich eine engere grenzübergreifende Zusammenarbeit. "Alle Türen sind geöffnet", sagte er. "Es gibt keine Gefahr mehr, kein Risiko, keinen Grund für eine Urangst auf der einen oder anderen Seite."
(Das Gespräch führten Maja Lazar Jančič/STA und Stefan Vospernik/APA)
(Redaktionelle Hinweise: Diese Meldung ist Teil einer Kooperation der slowenischen Nachrichtenagentur STA und der Austria Presse Agentur anlässlich des 100. Jahrestags der Kärntner Volksabstimmung)
(Schluss) vos/mfw/spu